Der heutige Tag war wahnsinnig emotional.
Im Gerichtssaal saßen Momos Eltern nur anderthalb Meter von dem Täter entfernt, der sonst hinter einer Glasbox saß. Und das erste Mal äußerte sich der Täter selbst. Er verlas einen Text, den von seinem Zettel ablas.
Die darin enthaltene Entschuldigung konnten wir ihm nicht glauben. Es ließ einen das Gefühl nicht los, dass es ihm lediglich um eine Strafminderung geht. Fordert seine Anwältin schließlich einen Freispruch.
Auch die heute von der Nebenklage, dem Staatsanwaltschaft und von der Verteidigung gehaltenen Plädoyers waren schwer anzuhören.
Die Staatsanwaltschaft fordert neun Jahre und sechs Monate für Momos Tötung und sechs Jahre für versuchten Totschlag an Ahmed. Insgesamt wären das dann aber zwölf Jahre. So ist das in unserem Rechtssystem.
Die Urteilsverkündung steht noch aus und wurde auf Donnerstag 12:00 Uhr vertagt. Aber, Nisrin und Hussam konnten sich endlich auch an das Gericht wenden und ihre Sicht der Dinge darlegen.
Und so erzählten sie von ihrer Fluchtgeschichte und wie sie die Tötung an ihrem Kind erlebt haben.
Diese Rede haben wir auf Wunsch der Eltern auf der Mahnwache verlesen.
Hier nun für Euch:
Ich möchte, dass die ganze Welt die Geschichte meines Sohnes hört!
Wir sind eine palästinensisch-syrische Familie. Wir haben im Camp Jarmuk in Damaskus unseren schönsten Lebensabschnitt verbracht. Dies war aber auch mit Tränen
verbunden.
Am 11.12.2012 mussten wir, wie so viele palästinensische Familien, unsere Häuser verlassen und wurden wegen des Krieges vertrieben. Wir haben lange Nächte in
Angst verbracht.
Die Zerstörung und der Tod um uns herum hat unsere Situation verschlechtert.
Flugangriffe, Artillerie, Panzer und alle möglichen Waffen wurden an uns ausprobiert, folglich sind hunderte Unschuldige ums Leben gekommen.
Ab diesem Zeitpunkt flüchteten wir und sind wir auf die Suche nach einer sicheren Unterbringung für unsere Kinder gegangen. Wir durften nach drei Monaten
zurückkehren, unsere Rückkehr war allerdings nur für ein paar Tage. Diesmal wurden wir endgültig vertrieben.
Camp Jarmuk zu verlassen war auch nicht sehr einfach. Alle zusammen zu gehen, das war keine Option, denn nur eine bzw. maximal zwei Person aus jeder Familie
durften die Gegend verlassen. Deswegen habe ich mich entschlossen, dass Mohamad und ich zuerst gehen.
Die Entscheidung fiel aus der Angst heraus, dass sein Vater verhaftet wird und diese Gefahr wollten wir uns ersparen.
Mohamad und ich hatten damals viel zu ertragen. Beschimpfungen, Schläge und vieles mehr mussten wir aushalten. Am Schlimmsten war es, an den Leichen vorbei zu
gehen. Leichen ohne Köpfe oder Beine! Darüber hinaus fielen Schüsse um uns herum, die Momo und ich überleben mussten.
Momo hat damals immer den Menschen geholfen. Trotz der Militärpräsenz hat er immer Wasser für mich und die Anderen geholt. Er wurde sogar während des
Wasserholens von einem Polizisten oder Soldaten hart geschlagen. Er rannte zu mir zurück und erzählte mir mit gebrochenem Herzen davon. Zudem sind sein Onkel und dessen Sohn im Juli 2013 im Camp
Jarmuk verstorben. An Momos ständig verweinten Augen habe ich gemerkt, dass sein psychischer Zustand überhaupt nicht in Ordnung war und ich ihn dort rausholen musste. Mittlerweile war er fünf
oder sechs Jahre alt und hatte weder je eine Schule besucht noch mit Freunden wie ein normales Kind gespielt.
Ich habe mich entschieden in den Libanon zu fliehen, in der Hoffnung, dass ich wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht sehen würde. Aber die Situation im Libanon
war auch schlimm und sehr hart für geflüchtete Menschen aus Syrien. Ich blieb also auf der Suche nach einem friedlichen Ort für Momo und meine
Kinder.
Damit sie wie alle Kinder auf der Welt normal aufwachsen können.
Ende 2015 war es möglich und wir hatten die Chance nach Deutschland zu gehen. Durch die Türkei, dann per Gummiboot nach Griechenland – das war
wieder ein sehr schwieriges Erlebnis für Momo und mich.
Auf diesem altersschwachen Boot war die Angst so groß und wir dachten wir sterben, daher wollte Momo die Stimme seines Vaters hören und sich
von ihm verabschieden. Was leider unmöglich war...
Glücklicherweise sind wir letztendlich in Deutschland angekommen.
Das Land der Gleichberechtigung, wo jedem Kind und jeder Frau ihre Rechte zustehen.
Anfangs war es für Momo unvorstellbar in Deutschland zu bleiben. Er wollte immer zu seinem Vater. Sein Ankommen in Deutschland verlief zunächst sehr schwierig,
da er seine Geschwister, seinen Vater und seine Freunde nicht vergessen konnte.
2017 konnte ich meine Familie endlich wieder vereint sehen. Durch die Familienzusammenführung durften sie nach Deutschland kommen. Momos Wunsch war wahr
geworden und seine Kindheit konnte langsam ihren natürlichen Weg gehen.
Ich sah ihn endlich glücklich, als ob er ein neues Leben angefangen hätte.
Jahre sind hier in Deutschland vergangen. 2020 passierte jedoch das Schlimmste, was ich je erlebt habe.
Am 31.10.2020 wurde mein geliebter Sohn durch einen 41-jährigen kranken Täter eiskalt erstochen. Er wurde mir gestohlen! Endgültig! Meinen 13-jährigen Momo sehe
ich nie wieder...
Das Kind, das jeden in seinem Umfeld liebte und immer half.
Ich will, dass alle hier mit uns stehen und uns unterstützen, Momos Rechte nicht zu vergraben. Er ist zwar nicht mehr hier. Seine Seele ist aber noch zwischen
uns.
Ich will dem Täter, der meinen Sohn getötet hat, weil er der „Sohn einer arabischen Schlampe“ ist, ein paar Worte sagen:
Zunächst einmal bin ich keine Schlampe, wie du in deiner rassistischen Vorstellung glaubst. Ich respektiere jeden und vor allem das Land, in dem wir uns gerade
befinden. Außerdem verstehe ich es überhaupt nicht, wie jemand der selbst nicht aus Deutschland ist, so ein Rassist sein kann. Du bist einfach ein verdammter Verbrecher. Du hast mir meinen Sohn
für immer gestohlen! Sein lächelndes Gesicht und seine Zärtlichkeit wird es nie mehr geben...
Diese Tage sind die schwierigsten meines Lebens. Sogar der Krieg wäre uns lieber als Momo zu verlieren. Zumindest konnte ich damals auch während des Verhungerns
im Bombenhagel seine Stimme hören. Als er mich „Mama, liebe Mama“ gerufen hat.
Ich bin aus Syrien hierher geflohen, um Momo zu beschützen und ihm ein normales Leben zu bieten. Dies ist durch deine eklige rassistische Tat nicht mehr
möglich. Du verdammter Kindermörder!!
Ich werde Momo nie vergessen, niemals. Er ist immer bei mir. Bei Spaziergängen ist er immer neben mir und an meiner Seite. Seine Stimme wird mir immer im Kopf
bleiben. Das gilt auch für seine Geschwister.
Der Sitz im Auto, wo er immer gesessen hat, sein Spielzeug, seine Playstation – all das erinnert uns an ihn.
Mitten in der Nacht höre ich ihn. Ich muss dann seinen Vater aufwecken und zu seinem Grab gehen. Um ihm nah zu sein.
Ich bin und werde ständig bei dir sein, lieber Momo. Meine Augen werden nie Schlaf kriegen, solange deine Stimme und Seele um uns herum ist. Das wird immer so
bleiben.
Dies habe nicht ich geschrieben.
Das waren die Worte meines gebrochenen Herzen, das nie aufhört an dich zu denken.